17 June 2022 | Norfolk, VA.
Rebel Marina
"Ja, lass uns morgen mal in die Stadt fahren, damit wir für Samstag schon einmal wissen, wie wir zur Demo kommen", schlug Alfred vor, als wir Pläne für unsere neue "Heimat" machten. Wir waren gerade in der Rebel Marina angekommen und von David, dem Hafenmeister, am Steg empfangen worden (Willoughby bei Norfolk, Virginia). David, der Eigner der Marina, ist ein sehr netter und bescheidener Mensch, der uns kurz darauf in seinem klimatisierten Büro alle Angebote der Marina erklärte. Wie auch schon in Beaufort, North Carolina, gibt es einen "complimentary car" - unglaublich, aber wahr. Dieses Auto steht den Marinagästen zur Verfügung, jede und jeder kann es jederzeit nutzen. Es läuft, so wie die Wäsche und der Eisverkauf, nach dem honour system. Wer das Auto nutzt, schränkt sich zeitlich ein und tankt dementsprechend etwas nach. Alfred fragt noch, "You don´t need to see our driver´s license?". No, no problem. Hier ist das totale Kontrastprogramm zur Charleston City Marina, in der nur Megayachten lagen. Hier haben ganz normale Leute ihre Segelboote, segeln Mittwochsregatten bzw. Donnerstagsregatten, wir erleben das kurz nachdem wir ankommen. Zwei nette Frauen sprechen uns am Steg an und staunen, wie so viele, dass wir mit dem Boot aus Deutschland gekommen sind. Sie warten auf ihr Boot, mit dem sie die Donnerstagsregatta mitsegeln wollen. Es kommt kurz darauf, die Frauen springen an Bord und schon segeln sie los. Wir gehen ins "Fish House", wo wir uns ein Abendessen auf der "Porch", der Terrasse, gönnen, und die Regatta in der Willoughby-Bucht beobachten können. Es fliegen Genaker, in der Sonne schimmernde Racing Carbon-Segel als auch alte Lappen auf Familien-Booten mit Grill am Heckkorb. Am Ende kommt die eine Frau auch in das Restaurant und setzt sich mit anderen an die Bar. "How did you do?", frgae ich sie, als wir aufbrechen. "We got second or third. Not bad", erwidert sie und grinst. "Congratulations!", freue ich mich mit ihr.
Die Busfahrt
Am nächsten Morgen arbeiteten wir einen Plan aus, wie wir am besten mit Rad und Bus von Willoughby nach Norfolk kommen. Wir radeln ca. 10 Minuten zur Bushaltestelle, stehen 10 Minuten in der 30 Grad-Hitze und steigen dann mit unseren Falträdern in den 8er Bus, der durch die Klimaanlage so kalt ist, dass ich mir wünsche, einen Pullover zu haben. Es steigen zwei weitere Leute zu, zwei Männer, die eher weniger wohlhabenden sozialen Schichten zuzuordnen und POC (Person of Color) sind. Schon in Florida fiel mir auf, dass eigentlich nur arme Leute Bus fahren und dass diese "zufällig" auch fast alle POCs sind. Ich unterhalte mich mit dem Mann neben mir, der etwa 30 Jahre alt ist, ein großes weißes T-shirt trägt und eine Schlabberjogginghose. Er ist sehr interessiert und rät mir, lieber Tagestickets zu kaufen, das sei günstiger als Einzeltickets. Ich solle ruhig zum Busfahrer gehen, es sei ja gerade Stau. Ich krame in meinem Portemonnaie, um kleine Scheine zu suchen. Ich habe nur einen 10-Dollar-Schein. Mein Sitznachbar sieht das und hält mich zurück, er hält mir einen 5-Dollar-Schein hin. Ich denke zuerst, wie nett, er will mir wechseln. Ich warte auf den zweiten 5-Dollar-Schein. Er hält immer noch den einen 5-Dollar-Schein hin, sieht mich an und sagt schließlich, "I can use 5 Dollars." Ich überlege kurz, grinse, gebe ihm meinen 10-Dollar-Schein und bekomme dafür 5 Dollar. Alfred beobachtet den Tausch von der Sitzreihe gegenüber und grinst auch. Ich gehe zum Busfahrer und bekomme statt der zwei Einzeltickets für die 5 Dollar zwei Tagestickets. "That´s really nice of him, the bus driver didn´t have to that. That´s really great service, driver!", ruft der 5-Dollar-Mann dem Busfahrer zu. Aufgrund der kleinen Spende fühlt sich der geschickte Verhandler neben mir verpflichtet, etwas gesprächiger zu sein und uns etwas über die Umgebung zu erzählen, z.B. über den Strand und uns noch weitere wertvolle Tipps über Busverbindungen zu geben. Als er aussteigen will, versucht er, uns noch dazu zu überreden, mit ihm auszusteigen und den 1er Bus Richtung Stadt zu nehmen, die Verbindung sei viel besser als die mit der 8. Ich lehnte dankend ab, weil wir bei unserem Plan bleiben wollten, ab der Endstation mit dem Fahrrad in die Stadt zu fahren. Was sich aber im Nachhinein als eine ziemlich weite und nicht besonders fahrradfreundliche Strecke herausstellt.
Das Fest
Nach 1 ½ Stunden Fahrradfahrt mit Suche nach guten Radwegen wurden wir belohnt - mit dem schönen Hafenviertel von Norfolk und dem Harbor Fest. Ein großes Gelände auf frisch gemähten duftenden grünen Wiesen mit weit verteilten Ständen, die kostenlose Aktivitäten anboten, Essen und Getränke. "Wie bei der Kieler Woche", sage ich zu Alfred. Wir schlendern herum und staunen: ein hohes Aquarium mit zwei Meter hohen Glaswänden, in dem echte Meerjungfrauen schwimmen,
eine Bootsbastelwiese von Sika gesponsort, auf der man zu zweit oder alleine aus gestelltem Material (Spanplatten, Sikaflex und Kabelbinder) versucht, ein Objekt zu bauen, das nicht nur schwimmt, sondern auch noch bei einer Regatta schneller fährt als die anderen. Wir sprechen mit zwei Engineering-Studenten, die Freude an der Bastelei haben und auf Alfreds Hinweis, dass es schwierig wird, mit dem schmalen Boot nebenan mitzuhalten, mit Humor reagieren: "That looks like it´s going to leak.".
Im Hafen liegen mehrere Tall Ships, alte oder nachgebaute Karacken oder Karavellen, alte dreimastige Hochseeschiffe, auf denen Touren stattfinden. Schließlich beenden wir unseren Ausflug mir einem leckeren Abendessen, bevor wir uns auf den Heimweg aus Rad- und Busfahrt machen. Morgen früh wollen wir wieder in die Stadt fahren, um an der Demo "March for our Lives" teilzunehmen. Wir sind gespannt, wie viele Leute daran teilnehmen werden und wie es wird.
"March for our Lives"
Es ist ein Thema, das mich schon seit Jahren beschäftigt. Wieso sind Amerikaner so sehr auf ihre Freiheit bedacht? Die Freiheit, die zwar für manche Individuen von Vorteil ist, für viele aber eher von Nachteil. Besonders in Bezug auf die Freiheit, Waffen tragen zu dürfen. Darauf bin ich bereits im Post, "Das T-Shirt" eingegangen. Sollen wir überhaupt noch zur Freiheitsstatue segeln? Wie viel Freiheit braucht eine Demokratie? Wie viel soziale Verantwortung?
Schon seit einigen Jahren bekomme ich den Newsletter von March for our Lives zugesandt. Die Organisation wurde von Schülern gegründet, die von dem Amoklauf an der Parkland-Schule in Florida 2018 betroffen waren. Sie verloren Lehrerinnen, Freunde oder Angehörige. Das motivierte sie dazu, viele Schüler USA-weit zu mobilisieren und sich gegen Waffen bzw. für strengere Waffengesetze einzusetzen. Bis vor Kurzem konnte ich die Aktivitäten dieser Organisation nur aus der Ferne verfolgen, aber jetzt konnte ich endlich bei einer Aktion mitmachen. Alfred war sich nicht sicher, ob er als Nicht-Amerikaner überhaupt dazu berechtigt sei, daran teilzunehmen. Wir waren uns aber schließlich einig, dass es in Ordnung sei, weil er ja als Partner einer Amerikanerin teilnehmen würde.
Morgens um 10:00 versammelte sich vor dem World Trade Center in Norfolk eine bunte Menge an Leuten, die teilweise Schilder trugen, manche T-Shirts mit politischen Aussagen. Einige Frauen in roten T-Shirts mit der Aufschrift "Moms Demand Action", die sich auch gegen Waffen einsetzen, stehen auch hier und da verstreut in der Menge von ungefähr 150 Demonstranten. Wir plaudern mit zwei Frauen, die in einem historischen Museum arbeiten und sich gut mit den verschiedenen Entwicklungsstadien der amerikanischen Flagge auskennen. Plötzlich hören wir laute Kommandos - eine Frau ruft, "Let´s get going, c´mon, as a former Platoon leader, I´ll take over the lead!". Eine sehr dynamische Frau läuft vor und gibt Anweisungen, in welche Richtung es gehen soll, ruft Parolen und sagt uns, was wir antworten sollen, z.B. "No more violence!" oder "Never again!". Ich finde es sehr bewegend, die Rufe gegen Gewalt zu hören und mitzurufen. Wie engagiert manche Leute ihre selbstgemalten Schilder hochhalten (siehe Galerie), beeindruckt mich. Als wir schließlich vor dem Rathaus stehen, hoffe ich zwar, dass uns jemand sieht und hört, glaube es jedoch eher nicht, als ich den mindestens zehnstöckigen spiegelnden Glasbau emporschaue.
An ihrem selbstbewussten Auftreten merkt man, dass die Gruppenleiterin es gewohnt war, Gruppen zu führen. Am Ende erzählt sie uns, dass sie bei der Army war, nun pensioniert ist und nebenbei noch bei Target arbeitet, einem großen Kaufhaus. Wir sollten sie da gerne mal besuchen. Nach ca. einer Stunde sind wir wieder dort, wo wir losgegangen sind und sind froh, dass wir mitgemacht haben, aber auch erleichtert, dass wir uns jetzt ausruhen können. Es wird schon wieder sehr heiß. Vor uns liegt schon das Gelände das Harbor Fests, wo es kalte Limonade gibt.